Eine große Achtung habe ich vor den jungen Leuten, die sich als Zivildienstleistende, Gedenkdiener, als Freiwillige im Sozialen Jahr oder Praktikanten mit Auschwitz auseinandersetzen. Sie sprechen im vierten Abschnitt über ihre Arbeit mit Auschwitz und ihr Leben in Oswiecim.
Karl Richter-Trümmerist Zivi aus Österreich. Er arbeitet seit mehr als einem Jahr in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte. An seinem letzten Arbeitstag sprechen wir miteinander. Er ist müde und erschöpft. In den letzten Wochen habe er viel arbeiten müssen und seine freien Tage nicht nehmen können, sagt er. Dennoch ist er konzentriert im Gespräch und erzählt von seinen Erfahrungen mit Menschen, die in einer Gruppe Auschwitz besuchten.
Sein Ansporn vom ersten Tag an sei gewesen, Jugendlichen und Erwachsenen etwas mitzugeben: „Ich wollte ihnen zeigen, dass Auschwitz nicht nur Geschichte ist, sondern täglich in irgendeiner Form passiert.“ Rassismus werde es vermutlich immer geben und das Einzige, was man dagegen tun könne, sei mit offenen Augen durch die Welt zu gehen und dagegen wirken, wo man kann. „In Auschwitz musst du dir über Schuld Gedanken machen, ganz klar“, sagt er. „Und jeder macht sich hier auch darüber Gedanken.“ Das Beste sei, dass Schuld letztlich zu Verantwortung nicht für Vergangenes, sondern für heute und jetzt und für das eigene Leben und das von anderen werde.
Jusuf Capalar leistet seinen Zivildienst als Gedenkdiener im Museum. Er kommt auch aus Österreich. Gesammelt und zurückhaltend erzählt er zwei Wochen vor dem Ende seiner Zeit dort über seine Arbeit. Er hat hauptsächlich mit Archivmaterial gearbeitet. So transkribierte er 200 handgeschriebene Seiten des zweiten Auschwitz-Kommandanten Arthur Liebehenschel, der 1948 in Krakau hingerichtet wurde. „Wenn man so seine Briefe und Hefte studiert“, sagt er, möchte man eigentlich gar nicht glauben, dass er ein Krimineller war.“ Als er zum Tode verurteilt wurde, habe er seiner Frau geschrieben, dass er unschuldig sterbe – und dass nach all dem, was hier Schreckliches passiert sei!
Andreas Geike treffeich auch in der Internationalen Jugendbegegnungsstätte. Er kommt aus Guben und erlebt dort, wie Neonazis 1999 einen Algerier durch die Stadt zu Tode hetzen. Etwa 150 Meter von seinem Elternhaus entfernt springt der Mann in Panik durch eine Glastür und verblutet im Hausflur. Danach sei ihm klar geworden, dass seine politische Arbeit in der Antifa nicht ganz ungefährlich sei“.
Über sein Praktikum und sein Leben in Oswiecim erzählt er eher distanziert. Er habe zum Beispiel bei sich beobachtet, wie sich mit der Zeit Abwehrmechanismen entwickelt hätten. So gehe er zum Beispiel morgens auf dem Weg zur Arbeit immer an der Gaskammer im Stammlager vorbei. Anfangs habe er sich darüber Gedanken gemacht, sagt er. Jetzt sei das nicht mehr so. „Auschwitz ist schon ein hartes Thema“, sagt er, „und es würde einen Menschen überfordern, wenn er sich das, was hier passiert ist, die ganze Zeit vor Augen hält.
Zu Beginn seines Freiwilligen Sozialen Jahres treffe ich Tilman Daiger. Der freundliche, junge Mann hat sich entschieden, mit seinem Einser-Abitur und „ausgemustert“ nicht gleich mit einem Studium zu beginnen. Er wird ein Jahr im Jüdischen Zentrum in Oswiecim arbeiten. Das finde ich ungewöhnlich und möchte wissen, warum er sich so und nicht anders entschieden hat.
Nach seinem ersten Arbeitstag sprechen wir miteinander. „Ich bin, um es plakativ zu sagen, Teil des Tätervolkes“, sagt er. Sein Urgroßvater mütterlicherseits sei ein Naziverbrecher gewesen. Diese Familiengeschichte sei jedoch kein Grund, eine Art persönliche Schuld sühnen und tilgen zu wollen. „Für mich ist die familiäre Vergangenheit ein zusätzlicher Antrieb, eine positive Zukunft mitgestalten zu wollen“, sagt er. Das gehe er praktisch an und mache im Jüdischen Zentrum den Anfang.