Aus der Einleitung: Auschwitz ist mit der deutschen und europäischen Geschichte seit 70 Jahren verbunden. Sie beginnt 1939 mit dem Einmarsch der Deutschen in Polen und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. Am 4. September 1939 nehmen Deutsche die Stadt Oswiecim ein und ändern ihren Namen in Auschwitz. Sechs Wochen später entscheidet das Reichsministerium des Inneren, Auschwitz gehöre ab sofort zu Ostoberschlesien und damit zum Deutschen Reich.
Zehn Jahre später prägt Auschwitz maßgeblich die Gründung der Bundesrepublik Deutschland. Die Verfasser des Grundgesetzes sind getrieben von einem „Nie wieder“. Dieses „Nie wieder“ bezieht sich auf die etwa 55 Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs. Und auf Auschwitz als Kulminationspunkt des von Größen- und Vernichtungswahn geprägten, bürokratisierten, teilweise industrialisierten Massenmordes an Menschen aus ganz Europa durch Deutsche und ihre Kollaborateure, der bis heute Grauen und Entsetzen auslöst.
In den vergangenen Jahrzehnten ist Vieles von dem, was damals war, aufgearbeitet worden – eine Fülle von Fakten wurde gesammelt und publiziert, Lebensberichte von Überlebenden und Schicksale von Ermordeten veröffentlicht. Langsam nähert man sich auch den Tätern. Ist das nun genug? Weiß man damit „alles“ über Auschwitz, wie es in Debatten manchmal anklingt? Lässt das Interesse nach?
Nein: „Wer heute glaubt, das Thema Auschwitz sei nicht mehr interessant, irrt“, schreibt das Internationale Auschwitz-Komitee im Juli 2008 in seinem Bulletin. Das Gegenteil ist der Fall: Zwischen 2006 und 2008 besuchen 3,4 Millionen Menschen aus der ganzen Welt das staatliche Museum Auschwitz-Birkenau. Etwa 60 Prozent von ihnen sind Schüler und Studenten. Die meisten kommen aus Polen, Großbritannien, den USA und – Deutschland.
Auch ich reise im Juli 2006 nach Auschwitz. Irgendwie ist das „dran“. Ich will mehr wissen und mir den Ort anschauen. Und ich möchte der Toten gedenken, zu denen auch Familienangehörige meines Mannes gehören.
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In fünf Tagen, pädagogisch, fachlich und menschlich betreut, lerne ich, dass Auschwitz nicht nur das ist, was ich mir vorgestellt habe: ein trauriger, lebloser Ort, von ein paar Menschen besucht; ein Ort, der mich emotional überfordert und gedemütigt zurücklässt. Es ist anders. Auschwitz zeigt sich mir als ein Platz, wo Lehren, Lernen und Gedenken sich konzentrieren. Ich lerne nicht nur mehr über den Nationalsozialismus und seine grauenhaften Verbrechen. Ich lerne auch, Auschwitz emotional auszuhalten. Am Ende des Seminars habe ich den Eindruck, wacher zu sein.
Mich macht das neugierig und ich möchte wissen: Wie erleben andere Auschwitz heute? Das möchte ich Menschen fragen. Eines ist mir dabei klar: Vom Schreibtisch aus geht es nicht. Es geht – wenn überhaupt – nur vor Ort. Im September 2006 fahre ich ein zweites Mal nach Oswiecim und mache mich auf die Suche nach GesprächspartnerInnen. Mit jeder und jedem eröffnet sich ein neuer Aspekt, ein weiterer Blick auf Auschwitz. Das Interesse ist groß. Das Bedürfnis, über Auschwitz zu sprechen, auch. Ich erlebe, wie viel Mut und Ernsthaftigkeit, innere Anteilnahme und Bemühen Menschen prägt, die mit dem Thema Auschwitz arbeiten, Auschwitz besuchen oder in Oswiecim leben.
Im vorliegenden Band sprechen 28 Menschen aus fünf Nationen über ihre Begegnung mit Auschwitz. Bis auf zwei treffe ich alle Gesprächspartner vor Ort. Sie schildern ihr persönliches Ringen um Erkenntnis, Wahrheit, individuell-emotionale Wirklichkeit – um ihre eigene Form eines „Nie wieder“. Es sind historisches Wissen, viele Gedanken, Reflektionen und in einer respektvollen, tiefen Auseinandersetzung mit Auschwitz erworbene Perspektiven. Bei aller Bereitschaft und dem Wunsch, über Auschwitz zu sprechen: Niemandem fällt es leicht. Wenn es um persönliche Eindrücke geht, tut Auschwitz weh. Tränen stehen in den Augen. Oft fehlen die Worte.
Ich höre zu.
Die Ansichten und Versuche zeitgeschichtlicher Einordnung sind subjektiv und vorläufig. Aufgeschrieben in Ich-Form ermöglichen sie über ethnische, religiöse, politische und kulturelle Grenzen hinweg einen Dialog von Mensch zu Mensch. Sie zeigen einen kleinen Ausschnitt von dem, was Auschwitz heute ist. Was bei allem vorsichtigen Formulieren niemand beabsichtigt, ist, Auschwitz zu banalisieren.
Die Umstände unserer Begegnungen sind nicht geplant, sondern häufig zufällig. Sie sind besonders, auch privat, und liegen mir sehr am Herzen. Einige möchte ich erzählen, denn sie unterstützen vielleicht das Besondere einzelner Personen und warum ich gerade mit diesem Menschen über Auschwitz spreche.
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Zwischen September 2006 und August 2007 kommen unterschiedliche Perspektiven zusammen. Ich gliedere sie in sechs Abschnitte: Die Zeitzeugen - Die Multiplikatoren - Das Museum - Die Freiwilligen - Die Besucher – Die Stadt Oswiecim und ihr Umland.
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Aus dem Vorwort von Prof. Dr. Micha Brumlik:
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Im Unterschied zur Museumspädagogik hat die „Gedenkstättenpädagogik“ – jedenfalls, was die deutsche Entwicklung betrifft, zudem einen ganz eigenen, kaum verallgemeinerbaren Gegenstand: die nationalsozialistischen Verbrechen, die Motive und Strukturen ihrer Täter sowie das mannigfache Leiden ihrer Opfer. Diesem Thema würde man sich in der Regel mit Ausnahme zeithistorisch fachlicher Interessen auf den ersten Blick nicht freiwillig zuwenden, da es Furcht und Schrecken, Abwehr, Scham und Angst provoziert. Lässt man einen zweiten Blick zu, kann eine Beschäftigung mit dem „widrigen Gegenstand“ im besten, im gelingenden Fall zu einem veränderten, menschlich-moralischen, gesellschaftlichen und politisch verantwortlichen Bewusstsein führen. Dass derlei Lernprozesse wie andere Lernprozesse nicht in allen Altersstufen möglich sind und wenn ja, von Alterstufe zu Altersstufe unterschiedlich zu gestalten und überhaupt möglichst präzise auf unterschiedlichste Adressatengruppen auszurichten sind, versteht sich daher von selbst.
Die Chiffre für alle derartige Pädagogik ist bis heute der deutsche Name einer polnischen Kleinstadt, Oswiecim, „Auschwitz“. Seit der zweiten Hälfte der 1940er Jahre entstand dort allmählich ein Komplex von Ausstellungen, Baudenkmälern und auch Andachtsorten, ein Komplex, der am authentischen Ort auf ein bis dahin präzedenzloses Menschheitsverbrechen: den nationalsozialistischen Mord an sechs Millionen europäischer Juden, erinnert. Diesem Komplex hat sich die Erziehungswissenschaft bereits in einer gründlichen Studie gewidmet – Manfred Wittmeiers 1997 im gleichen Verlag erschienene Untersuchung „Internationale Jugendbegegnungsstätte Auschwitz – Zur Pädagogik der Erinnerung in der politischen Bildung“ setzte sich nicht nur akribisch mit Geschichte und organisatorischen Strukturen der Gedenkstätte auseinander. Sie ging auch intensiv auf Projekte historischen Lernens in staatsbürgerlicher Verantwortung ein.
Der nun von Bettina Schaefer vorgelegte Band mit von ihr erhobenen und bestens lesbar transkribierten Interviews von Zeitzeugen, Multiplikatoren, Angestellten der Gedenkstätte sowie Besucherinnen und Besuchern verschiedensten Alters, nationaler und religiöser Herkunft bietet nicht weniger als die längst erwartete, notwendige Ergänzung zu einer „objektiven“ Darstellung der Gedenkstätte – nämlich einen sehr persönlichen, beinahe intim zu nennenden Einblick in die Erfahrungs- und Erlebniswelten all jener Menschen, die mit ganz unterschiedlichen Aufgaben, Interessen und Schlussfolgerungen jährlich diese Gedenkstätte besuchen bzw. die Besucher betreuen und empfangen. Tatsächlich sind es wohl jährlich mehr als eine Million Personen, die diese Gedenkstätte, die damit auch zum touristischen Anziehungsort wird, besuchen.
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Es ist in einer kurzen Vorbemerkung gar nicht möglich, die Fülle der in diesem Band angesprochenen Motive und Lebensgeschichten zu nennen, geschweige denn, sie auf einen Nenner zu bringen. Vielmehr sollte darauf hingewiesen werden, dass es für jede künftige Gedenkstättenpädagogik – und das betrifft nicht nur die Gedenkstätte „Auschwitz-Birkenau“ – für jene Zeit „nach den Zeitzeugen“ ein genauer, offener Blick auf die vielfältigen Dimensionen dieser kulturellen Orte unabdingbar ist – sollen sie nicht dem Vergessen oder der Verflachung überantwortet werden; wobei unklar ist, was dem historischen Bewusstsein mehr schadet. Zu diesen vielen Dimensionen gehört das Bewusstsein der Menschen, die dort arbeiten ebenso hinzu wie das Bewusstsein all jener, die aus unterschiedlichsten Gründen die Gedenkstätte besuchen. Mit Bettina Schaefers packender Interviewsammlung liegt nun erstmals ein Einblick in jenen noch unbekannten Kontinent vor. Dieser Blick ist für alle, die praktisch im Bereich der Gedenkstättenpädagogik tätig sind bzw. für alle, die sich theoretisch mit der Formung des kollektiven Gedächtnisses befassen, unabdingbar.